Wer die Fürstengruft in Weimar besucht, steht vor den Sarkophagen der beiden größten deutschen Dichter, die man zeitweise so als Einheit verstanden und inszeniert hat, als wären sie siamesische Zwillinge gewesen: Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller. „Faust“ und „Die Räuber“ kommen ins Bewusstsein; hier ruhen die wortgewaltigsten Götter, die das Land zwischen Nordsee und Alpen je hervorgebracht hat. Denkt man …
Dieses „Denkt man …“ soll jetzt kein Einspruch gegen die Bedeutung der beiden sein. Vielmehr – und das weiß kaum jemand: Schillers Sarg ist leer!
2008 brachte es eine DNA Untersuchung ans Licht. Die bis dahin in Schillers Sarg ruhenden Überreste gehören zu drei verschiedenen Personen – aber keine davon ist Friedrich Schiller. Die sterblichen Überreste wurden daraufhin aus der Fürstengruft verbracht und auf dem angrenzenden Friedhof bestattet.
Wie konnte es nur dazu kommen? Dass Schillers Knochen verschwunden sind und stattdessen eine frankensteinsche, gewissermaßen wild zusammengewürfelte „Collage“ neben Goethe ruhte? Reiner Schmitz´ wunderbares Buch „Was geschah mit Schillers Schädel? Alles, was Sie nicht über Literatur wissen“ (1.722 Seiten, jede davon ein Hochgenuss) gibt Aufschluss.
Begräbnis um Mitternacht
Schon das Begräbnis geriet zur absurden Posse. Carl Leberecht Schwabe, Sohn des Weimarer Bürgermeisters, empfand es als Schande, wenn „die Leiche des edelsten und geliebtesten Dichters von bezahlten, teilnahmslosen Menschen zu Grabe getragen würde …“ Schwabe hielt es für würdevoller, die ganze Angelegenheit als minimalistische, mitternächtliche Spukgeschichte zu inszenieren – ohne Musik und ohne Trauerrede. Und natürlich durchbrach der Mond dramaturgisch pssend exakt in jenem Moment die Wolken und „übergoss mit seinem ruhig freundlichen Lichte den Sarg des Dichter, ihm einen kurzen Abschiedsgruß sendend“, als der Trauerzug den Friedhof erreichte. Als 52. Leiche landete Schiller in einem Massengrab, dem „Kassengewölbe“, das noch zwölf weitere Tote aufnehmen sollte.
Zwanzig Jahre später war die Gruft voll und Carl Leberecht Schwabe selbst Bürgermeister. Die Aufforderung der Verwaltung, das Kassengewölbe müsse „zusammengeräumt“ werden, wollte Schwabe nutzen, Schillers Sarg in die gerade in Planung befindliche Fürstengruft umzubetten. Am 13. März 1826 stieg er mit Oberbaudirektor Coudray, Leibmedicus Dr. Schwabe und Stadtschreiber Aulhorn in das Kassengewölbe hinab. Sechs Särge kamen in Frage. Doch die Namensschilder ließen keine nähere Bestimmung der Identität zu. Das Abenteuer wurde abgebrochen und dem Totengräber aufgetragen, alles unverändert zu belassen.
Der Bürgermeister als Grabräuber
Schwabe beschloss nunmehr, Tatsachen zu schaffen. Unter absoluter Geheimhaltung ließ er – wiederum mitternachts – den Totengräber und drei Tagelöhner antreten und die Särge öffnen. Am Ende der dritten Nacht hatte Schwabe dreiundzwanzig Schädel in einem Sack, den er kurzerhand mit nach Hause nahm. Jetzt begannen die „forensischen“ Arbeiten. Schwabe verglich die Schädel mit Schillers Totenmaske und entschied sich schließlich für den größten.
Schwabes Leichenfledderei kam ans Tageslicht und Weimar hatte seinen Skandal. Vor allem die Angehörigen der im Kassengewölbe Bestatteten, deren Skelette nun zu einem bizarren Haufen aufgeschichtet waren, fanden die Angelegenheit empörend. Doch sowohl der Großherzog als auch Goethe fanden es wunderbar, dass Schillers Schädel wieder gefunden war und beglückwünschten den Bürgermeister zu seinem morbiden Abenteuer.
Großherzog Karl August hatte inzwischen Gefallen gefunden am Thema und schlug – ganz als „Privatperson“ – vor, Schillers Schädel doch lieber in eine Bibliothek zu stecken als in ein feuchtes Grab. Der Reliquienkult der alten Kirche gab für diese Idee die Rechtfertigung ab. So landete Schillers Schädel in der Fürstlichen Bibliothek im Sockel einer Marmorbüste von … Friedrich Schiller. Den Schlüssel verwahrte der „großherzogliche Oberaufseher über die unmittelbaren Anstalten für Wissenschaft und Kunst“ – Johann Wolfgang von Goethe höchstselbst.
Nun mussten nach dem Schädel noch die restlichen Knochen Schillers gefunden werden. Da dieser als der am größten gewachsene Bürger Weimar gegolten hatte, entschied man sich kurzerhand für die längsten Knochen im Sammelsurium des Kassengewölbes. Einhundertacht Teile des Skeletts mussten als verloren gelten. Darunter das Schwanzbein und eine ziemliche Menge Zehenglieder. Nicht einmal mehr der halbe Schiller war noch da!
Schillers Schädel als Reliquie
Es kam zu einer – relativen – Wiedervereinigung von Schädel und fragmentarischem Gerippe, als man den „restlichen“ Schiller in einem der unteren Räume der Fürstlichen Bibliothek unterbrachte.
In der Nacht vom 25. auf den 26. September muss es Goethe sentimental ums Herz gewesen sein. Er nahm Schillers – vermeintlichen – Schädel mit nach Hause und verfasste sein Gedicht „Auf Schillers Schädel“: Im ernsten Beinhaus wars, wo ich beschaute, Wie Schädel Schädeln angeordnet paßten; Die alte Zeit gedacht ich, die ergraute. Sie stehn in Reih geklemmt, die sonst sich haßten, Und derbe Knochen, die sich tödlich schlugen, Sie liegen kreuzweis, zahm allhier zu rasten …
Als sich 1827 der bayerische König bei einem Besuch in Weimar über die getrennte Aufbewahrung von Schädel und restlichen Knochen mokierte, forcierte man die Überführung in die Fürstengruft. Am 16. Dezember 1827 wurde die Überreste Schillers – oder das, was man dafür hielt – erneut zur Ruhe gebettet. Goethe hatte sich gemeinsam mit Oberbaudirektor Coudray als Designer für den massiven Eichensarg betätigt.
Schillers Schädel als Forschungsobjekt
Reichlich fünfzig Jahre später kamen neue Gerüchte auf, die Zweifel an der Echtheit des Schädels säten. Der Anthropologe Hermann Welcker kam zu dem Ergebnis, dass Totenmaske und Abdruck des Schädels nicht von ein und derselben Person stammen konnten. 1911 ließ der Anatom August von Froriep das 1854 abgerissene Kassengewölbe aufgraben und entschied sich unter 63 geborgenen Schädeln für Nummer 34. Eine Kommission von Gutachtern – darin ändern sich die Zeiten nie – bestätigte ihm die absolute Echtheit. Ein passendes Skelett fand Froriep selbstverständlich auch. Jetzt gab es Schiller doppelt.
Fast hätte sich der ganze Trubel dann in Wohlgefallen und Pulverdampf aufgelöst, als die Nationalsozialisten kurz vor Kriegsende die nach Jena ausgelagerten Särge Goethes und Schillers sprengen lassen wollten. Sie sollten nicht als „Trophäen“ in die Händer der Alliierten fallen. Doch der kulturbewusste verantwortliche Bunkerleiter versteckte die Särge hinter Bergen von Verbandsmaterial und rettete sie auf diese Weise.
Schon am 12. Mai brachten die Amerikaner die Särge Schillers und Goethes zurück nach Weimar in die Fürstengruft.
Der Streit um die Echtheit des Schädels von Friedrich Schiller ging nach dem Krieg unverdrossen weiter. Der berühmte sowjetische Pathologe Gerassimow schaltete sich ein: Der von Froriep gefundene Schädel sei der einer etwa zwanzigjährigen Frau, allerdings mit dem abgenutzten Unterkiefer einer etwa fünfundsechzigjährigen Person. Und Gerassimow fand heraus, warum schon Schillers Totenmaske nicht stimmte: Die mit einem Tuch zusammengebundenen Haare Schillers hatten beim Abdrucknehmen unschöne Textilspuren hinterlassen, die der Bildhauer abschabte und Schiller damit eine ausladendere Stirn verpasste als dieser je gehabt hatte. 2005 mussten dann aber auch Gerassimows Ergebnisse, die den 1826 von Bürgermeister Schwabe ausgegrabenen Schädel favorisierten, in Zweifel gezogen werden. Gerassimow hatte unterschlagen, dass dem Schädel ursprünglich acht Zähne gefehlt hatten, die wohl Schwabe durch „Fremdmaterial“ ersetzt habe – bis nur noch ein Zahn fehlte – so wie es von Schiller bekannt war.
Am Ende gab es zwei Schädel, zwei Skelette und zwei Särge; unterschiedlichste Totenmasken und eine Ansammlung von „authentischen“ Haarbüscheln verschiedenster Struktur und Färbung. Bis die Stiftung Weimarer Klassik einer Gen-Analyse zustimmte, mit dem bekannten Ergebnis: Kein Schiller, nirgends.
Seine Spur hat sich für immer im Kassengewölbe von Weimar verloren.
Die passenden Reisen zum Blogpost: „Auf den Spuren von Schiller und Goethe in Thüringen“ und „Auf Goethes Spuren“
Quellen: Rainer Schmitz „Was geschah mit Schillers Schädel“ (Eichborn-Verlag 2006), Wikipedia
07.12.2015